Brahms-Festival: Berio mit Bravour

Lübeck: Über dem diesjährigen Brahms-Festival – schon das 32.! – in der Musikhochschule Lübeck steht das Motto „Rausch“. So verwegen, wie das klingt, war dann auch das Auftaktkonzert des MHL-Sinfonieorchesters mit Werken von Maurice Ravel, Bohuslav Martinú, Luciano Berio und Richard Strauss. Das Publikum im vollbesetzten Großen Saal erlebte vor allem eine bravouröse Berio-Interpretation.

Hochschul-Präsident Bernd Rademann gab eine klare Einführung in die „rauschhaften Erfahrungen, die zum Leben gehören – vom künstlerischen Schaffensrausch bis zur Kunst, sich zu berauschen“. Und dazu gehört als „zwingender Ausdruck einer Epoche“ der Walzer. So bildeten Ravels etwas morbide „La Valse“ und Richard Strauss nostalgische „Rosenkavalier“-Suite den Rahmen dieses aufregenden Konzerts. Dessen Leitung hatte kurzfristig der Stuttgarter Dirigent Christopher Schumann übernommen – für ihn eine riesige Herausforderung bei diesem schweren Programm.

Ravels „La Valse“ klingt so eingängig, ist aber alles andere als ein Einspielstück. Hier zerfiel es in seine Einzelteile, weil Schumann (im ersten Konzert am Sonnabend) auch zu stark den Dreivierteltakt akzentuierte. Am besten aus der Affäre zogen sich Holzbläser und Hörner – jeweils überwiegend an weiblichem Mund. Ein Leckerbissen wurde das Oboenkonzert von Martinú, mit dem sich Sergio Sánchez vorstellte. In den 2010er Jahren Schüler von Prof. Diethelm Jonas, ist er hier nun dessen Nachfolger. Auf dichtem Streicherteppich entwickelte er einen zarten, gleichwohl strahlenden Ton und hochkapriziöse Läufe. Schumann ließ die kleine Besetzung dem Solisten den Teppich ausrollen und die Streicher weit ausholen. Nicht zuletzt die „improvisatorischen“ Dialoge mit dem Flügel sowie (als Zugabe) mit dem Kontrabass machten diese Wiedergabe etwas für Gourmets.

Eine Großtat ist die Lübecker Erstaufführung des 3. Satzes aus Berios „Sinfonia für acht Singstimmen und Orchester“. Das ist wahrhaft „very big music“ des 20. Jahrhunderts, kompliziert bis in die kleinste Note in einem riesigen Instrumentarium – und für acht Sänger, die in die Klangballungen hinein mehr kommentierend rezitieren als singen. Die Partitur ist gespickt mit Zitaten aus meist bekannten Werken, die hier in eine „Neuzeit-Ordnung“ hineingestellt werden – ob aus „La Valse“ oder „Rosenkavalier“, ob aus Brahms' Violinkonzert oder vor allem aus Mahlers 2. Sinfonie. Diesem Rausch eigener Art hatte Christopher Schumann wohl die meiste Probenzeit widmen müssen – und zeigte sich mit klarer Diktion in allen Belangen souverän: So wurde diese Aufführung für die Ausführenden wie für die Zuhörer zu einem nachdrücklichen Erlebnis.

Die „Rosenkavalier“-Suite als Finale ging Schumann zu schnell an. Im Forte-Druck verlieren Streicher wie Hörner das Schwelgen und somit den „Rausch“, das Werk fällt auseinander. Die Hochschul-Sinfoniker gingen voll mit, vor allem die Holzbläser (voran die Oboe) glänzten mit Tonschönheit. Und die Streicher, denen eine Konzertmeisterin und ein Konzertmeister Vorbilder waren, bildeten das Fundament, auf dem auch die Blechbläser sich entfalten konnten. Der Beifall des seit Jahren treuen alten und des immer wieder jungen Publikums war enorm.

Dirigent Christopher Schumann übernahm das Eröffnungskonzert des 32. Brahms-Festivals. Foto: Schumann/MHL

Dirigent Christopher Schumann übernahm das Eröffnungskonzert des 32. Brahms-Festivals. Foto: Schumann/MHL


Text-Nummer: 165703   Autor: Güz   vom 05.05.2024 um 16.59 Uhr

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